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Wie der 50. US-Bundesstaat beinahe unter die Kontrolle des russischen Zaren geriet

Der Aufstieg und Fall des "Russischen Hawaiis": Das Versäumnis, die Inselgruppe im Pazifik zu sichern, ist ein Beispiel dafür, wie das zaristische Russland in der Neuen Welt nicht Fuß fassen konnte. Unser Autor zeichnet eine weitgehend unbekannte, aber kuriose Episode in der Geschichte des 19. Jahrhunderts nach.
Wie der 50. US-Bundesstaat beinahe unter die Kontrolle des russischen Zaren gerietQuelle: RT

Von Anatolij Brusnikin

Fast jeder in Russland und den USA kennt die Geschichte über Alaska, das von Russland für praktisch einen Apfel und ein Ei an die Vereinigten Staaten verkauft wurde. Wesentlich weniger Menschen haben von der russischen Kolonie in Kalifornien gehört. Und nur Historiker scheinen zu wissen, dass nur durch Zufall verhindert werden konnte, dass der künftige 50. Bundesstaat der USA vor 205 Jahren Teil des russischen Imperiums wurde.

Der "Schäffer-Betrug", wie die nachfolgend beschriebenen Ereignisse in der amerikanischen Geschichtsschreibung genannt werden, war zwar eine Randepisode der Kolonialzeit, aber das macht die Geschichte nicht weniger spannend. Was geschah wirklich zwischen 1815 und 1817 auf den Sandwich-Inseln, warum taufte ein bayerischer Arzt einheimische Häuptlinge in Erinnerung an russische Helden des Napoleonischen Krieges, und wann wurden auf Hawaii die letzten Menschenopfer erbracht?

Der Butterkrebs als großer Eroberer

Der erste Herrscher des Königreichs Hawaii hatte eine schwierige Kindheit. Er wurde Mitte des 18. Jahrhunderts als Sohn einer Adelsfamilie auf der größten Insel des Archipels geboren. Die Clans des Stammes befanden sich ständig im Krieg, sowohl untereinander als auch mit benachbarten Stämmen – über Jahrhunderte tobte ein klassischer "Krieg aller gegen alle".

Bei der Geburt erhielt das Kind den Namen Paiea – der lokale Name für eine inzwischen ausgestorbene Unterart des Butterkrebses – und die Geburt fand vor dem Hintergrund eines ungewöhnlichen Naturphänomens statt. Einer Version zufolge war der Komet Halley am Himmel zu sehen, der 1758 die Erde passierte. Die Priester betrachteten dies als göttliches Zeichen und sagten voraus, dass das Kind ein großer Eroberer werden würde, der alle seine Feinde zermalmte. Nachdem er den Weisen zugehört hatte, befahl der Großvater des Kindes und Herrscher der Insel, das Neugeborene unschädlich zu machen und zu töten. Den Eltern gelang es jedoch, das Kind zu verstecken, und in den ersten Jahren seines Lebens wurde nichts über seinen Aufenthaltsort bekannt. Als der Junge nach dem Tod des Großvaters und vor der nächsten Machtumbildung an den Hof zurückkehren konnte, hieß er Kamehameha, was in der Sprache der Eingeborenen "sehr einsamer Mann" bedeutet.

Bis 1778 war die Existenz einer Gruppe großer Inseln mitten im Pazifischen Ozean nur wenigen Auserwählten in Europa bekannt. Die Spanier, die zwischen ihren Kolonien auf den Philippinen und in der Neuen Welt Handel trieben, verbargen klugerweise ihre Routen vor den feindlichen Briten. Daher gab es keine schriftlichen Daten über die Besuche von Europäern auf den Inseln, obwohl Archäologen später Hinweise auf seltene Kontakte zwischen der lokalen Bevölkerung und den Spaniern fanden.

Offizieller Entdecker des Archipels war James Cook, der im Januar 1778 in der Waimea Bucht vor Hawaiis viertgrößter Insel Kauai vor Anker ging. 40 Jahre später sollte dort die russische Flagge gehisst werden, doch zunächst war der Engländer überglücklich mit seiner geografischen Entdeckung. Er widmete sie John Montagu, dem 4. Earl of Sandwich und Erster Lord der Admiralität – und zufällig der Erfinder des gleichnamigen belegten Brotes.

Ein Jahr später, nach einem erfolglosen Versuch, einen Seeweg nach Großbritannien um Nordamerika herum zu finden, kehrte Cook auf die Insel Hawaii zurück, wo damals der Onkel von Kamehameha regierte. Einen Monat verbrachten die Briten damit, ihr Schiff auf Vordermann zu bringen und Proviant zu sammeln. Die Besatzung, die während der langen Zeit auf See ziemlich undiszipliniert geworden war, begann regelmäßige Scharmützel mit der lokalen Bevölkerung anzuzetteln. Der Konflikt endete, als Cook versuchte, den Häuptling persönlich einzufangen. Dabei wurde Cook getötet, sein Körper von den Einheimischen gekocht, die Knochen sorgfältig vom Fleisch abgetrennt und für eine ehrenvolle Seebestattung auf das Schiff zurückgebracht. Der Häuptling, der seiner Gefangennahme entgangen war, starb wenige Jahre später friedlich, hinterließ die Insel seinem Sohn und ernannte seinen Neffen zum Vertreter des Kriegsgottes Ku. Kamehameha brauchte jedoch nicht lange, um die ominöse Prophezeiung über sich selbst zu erfüllen. Er tötete seinen Cousin und machte sich zum Herrscher der größten Insel.

Bald zog der Ort unternehmungslustige amerikanische Händler aus Neuengland an, die durch die Expedition von James Cook vom Archipel erfahren hatten. Kamehameha, der nach einem Besuch der Briten die Kraft des Schießpulvers entdeckt hatte, etablierte mit den Amerikanern den Handel mit Sandelholz, im Austausch für Waffen. Dann stellte er eine – nach lokalen Maßstäben – kolossale Armee von 10.000 Soldaten zusammen und unterwarf innerhalb von zehn Jahren fast alle Nachbarinseln mithilfe von Schießpulver und Schwert, mit Ausnahme der beiden am weitesten entfernten, westlichen Inseln Kauai und Niihau. Der Häuptling auf Kauai namens Kaumualii war erst 18 Jahre alt, als sich eine Armada von 1.500 Booten auf sein Reich zubewegte. Es schien zunächst, als würde es keine Rettung geben, aber die Flotte des mächtigen Eroberers wurde von einem plötzlich aufkommenden Sturm auseinandergetrieben. Einige Jahre später begann Kamehameha auf der zentralen Insel Oahu, eine neue Invasionsarmee zusammenzustellen. Genau zu dieser Zeit tauchten am Horizont zwei Schiffe unter russischer Flagge auf.

Das Land der Pelze

Obwohl russische Forschungs- und Fischereiexpeditionen bereits im 17. Jahrhundert die Küste des heutigen Alaskas besuchten, kann 1783 als das Gründungsjahr des russischen Amerikas betrachtet werden. Dies ist dasselbe Jahr, in dem die Krim und Georgien Teil des Russischen Reiches wurden. Durch ein Dekret von Katharina II. wurde die amerikanisch-orthodoxe Diözese und die Nordöstliche Pelz-Kompanie gegründet. Ein Jahr später wurde der erste permanente Handelsposten auf der Kodiak-Insel vor der Südküste Alaskas errichtet. Ursprünglich war es ein privates Unternehmen, an dem eine Gruppe sibirischer Fischer beteiligt war. Sie extrahierten Pelze und schickten sie nach Ochotsk, von wo aus die Ware unter großen Mühen auf dem Landweg in den zentralen Teil Russlands geliefert wurde.

Im Jahr 1799 wurde der Handelsposten Nowo-Archangelsk gegründet und Zar Pawel I. gründete die Russisch-Amerikanische Kompanie. Es wurde entschieden, den Handel nicht auf den europäischen Markt zu beschränken, sondern die chinesische Hafenstadt Kanton – das heutige Guangzhou – und die dortigen europäischen Handelsposten als Hauptmarkt zu nutzen. Die ständige russische Bevölkerung Alaskas wuchs und erreichte mehrere hundert Familien. Anstatt sich den Neuankömmlingen zu widersetzen, begannen die Menschen auf den Aleuten, für sie zu arbeiten, lernten die russische Sprache und konvertierten zum orthodoxen Glauben.

Ab 1790 war der Kaufmann Alexander Baranow der Hauptgeschäftsführer des Unternehmens, aber der Firmenmitbegründer Nikolai Resanow wollte sich erstmal alles selbst ansehen. 1803 nahm er mit einem kleinen Gefolge an der ersten russischen Expedition rund um die Welt teil, die von Iwan Krusenstern und Juri Lissjanski geleitet wurde. Zehn Tage nach ihrer Abreise wurde dem Leiter der Expedition mitgeteilt, dass es tatsächlich Resanow war, der die oberste Autorität über das Unternehmen hatte, die gesamte Reise sponserte und zum ersten Botschafter Russlands in Japan ernannt werden sollte. Während der gesamten Reise waren Krusenstern und Resanow in Machtkämpfe verwickelt, und nur der Gouverneur von Kamtschatka konnte sie schließlich am anderen Ende der Welt erneut versöhnen.

Einige Zeit zuvor segelten die Schiffe "Hoffnung" und "Newa" an die Küste von Hawaii, um Vorräte aufzufüllen. Die Besucher wurden herzlich empfangen, obwohl König Kamehameha die Entdecker nicht selbst empfangen konnte. Er bereitete sich zusammen mit seinen Kriegern auf einer Nachbarinsel auf den zweiten Versuch vor, auf Kauai einzufallen, war aber zusammen mit seinen Truppen an einer unbekannten Krankheit erkrankt, so dass der geplante Feldzug nie stattfinden konnte. Russische Seeleute besuchten auch seinen Rivalen Kaumualii, der in seiner aussichtslosen Lage bereit war, dem russischen Zaren an Ort und Stelle die Treue zu schwören, nur um dadurch militärische Hilfe zu erhalten. Krusenstern hatte jedoch andere Pläne, und die Schiffe segelten weiter auf ihren geplanten Routen.

Resanow wurde im isolationistischen Japan nie als Botschafter akzeptiert und fand bei seiner Ankunft in Nowo-Archangelsk die Siedlung in einem desolaten Zustand vor. Bis auf den Fisch wurden damals alle Lebensmittel aus Sibirien über Ochotsk auf dem Seeweg mit nur einem Schiff angeliefert. Die Reise dauerte zwei bis drei Monate. Natürlich war die Fracht zum Zeitpunkt der Ankunft alles andere als frisch. Resanow wurde klar, dass es zur Fortsetzung des Unternehmens notwendig war, die Sicherheit der Waren zu gewährleisten. Zu diesem Zweck fuhr er mit zwei Schiffen die Küste hinunter, fand einen Ort in Nordkalifornien, um eine Agrarkolonie zu gründen – das spätere Fort Ross –, und besuchte das spanische San Francisco, wo er großen Eindruck auf den Gouverneur machte, Handelsbeziehungen aufbauen konnte und zudem die Tochter eines örtlichen Generals heiratete. Das letztendlich traurige Schicksal von Resanow ist aus dem Werk "Juno und Avos" bekannt, aber seine Ideen wurden später vom "Herrscher des russischen Amerikas", Alexander Baranow, umgesetzt.

Es wurde viel getan, um den Transithandel mit Hawaii zu organisieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kamehameha aufgehört, Truppen auf Kauai zu landen, und sein Ziel durch Diplomatie erreicht – er erlaubte Kaumualii, Anführer der Insel zu bleiben, aber unter der Bedingung, dass nach seinem Tod alle Besitztümer ihm, dem König, zufallen würden. Kaumualii blieb nichts anderes übrig, als sich dieser Bedingung unterzuordnen, bis eines Tages die Götter von Hawaii ihm das Glück direkt vor die Haustür legten.

Im Januar 1815 spülte ein Sturm das Schiff "Bering" an Land, das der Russisch-Amerikanischen Kompanie gehörte. Dies geschah in der Bucht von Waimea – demselben Ort, an dem einst James Cook vor Anker ging. Kaumualii nutzte den alten Brauch des Küstenrechts und beschlagnahmte die Schiffsladung, die auf rund 100.000 Rubel geschätzt wurde. Als die Nachricht davon Nowo-Archangelsk erreichte, machte sich Baranow auf den Weg, um die Fracht zurückzufordern. Allerdings hatte er weder die Kraft noch die Mittel dazu. Aber er hatte einen deutschen Arzt.

Das Imperium des Dr. Schäffer

Georg Anton Schäffer wurde 1779 in Bayern geboren. Im Alter von 26 Jahren schloss er sein Studium als Chirurg ab und arbeitete anschließend in Ungarn und Galizien. 1808 trat er in die russische Armee ein und begann nach dem Ende der napoleonischen Invasion, als Schiffsarzt für die Russisch-Amerikanische Kompanie zu arbeiten. Im selben Jahr segelte er an Bord des Zweimasters "Suworow" nach Alaska, wo er sich aufgrund eines Konflikts mit dem Schiffskapitän entschied, an Land zu gehen. Dieser Arzt erwies sich als die gebildetste und zuverlässigste Person, die Baranow zur Verfügung stand.

Alaska besaß keine segelfertigen Schiffe. So segelte Schäffer im Oktober 1815 in Begleitung zweier Assistenten, von denen einer Baranows Sohn Antipater war, mehrere tausend Kilometer auf einem amerikanischen Schiff, um eine riesige Fracht zurückzuholen, die von einem Stamm von Eingeborenen beschlagnahmt worden war, und für die Menschenopfer noch als Norm galt. Der Plan war wie folgt: Der als Naturforscher getarnte Arzt sollte am Hof von Kamehameha eintreffen, sich beim Herrscher einschmeicheln und warten, bis Unterstützung der Russisch-Amerikanischen Kompanie in Form ihres Schiffes "Discovery" eintraf. Im passenden Moment würde der Arzt dem König ein Dokument unterbreiten, das seine wirkliche Position als Vertreter der Russisch-Amerikanischen Kompanie und des Russischen Reiches belegte. Danach sollte mithilfe des Herrschers das Firmeneigentum von Kaumualii abtransportiert oder mit Sandelholz Lösegeld geleistet werden, die Fracht auf die "Kodiak", ein anderes Schiff, verladen werden, das dann anschließend nach China segeln würde, um das Transportgut zu verkaufen.

Die Dinge liefen jedoch nicht ganz nach Plan. Die "Berater" von Kamehameha aus dem Kreise amerikanischer Kaufleute hatten umgehend eine Vorahnung und warnten den Herrscher, bei dem Russlanddeutschen auf der Hut zu sein. Der Arzt konnte jedoch das Vertrauen des Königs gewinnen, indem er sowohl den Herrscher als auch eine seiner Ehefrauen von langwierigen Krankheiten heilte, wofür er ein Haus aus Stein geschenkt bekam in einem Palmenhain am Ufer, in der Gegend des modernen Honolulu. Während er auf die Ankunft der "Discovery" wartete, legte Schäffer einen Garten neben dem Haus an und studierte die Natur und Geografie der Insel. Das Erscheinen des russischen Schiffes alarmierte jedoch den König und seine amerikanischen Handelspartner erneut, die Angst vor Konkurrenz hatten.

Der Prozess geriet ins Stocken, und Schäffer erwog "Plan B". Er würde allein nach Kauai segeln – schließlich hatte er bereits ein Schiff und alle notwendigen Genehmigungen, um die Insel sogar mit Gewalt einnehmen zu können. Man stelle sich seine Überraschung vor, als Kaumualii, der das Unternehmen vor kurzem buchstäblich ausgeraubt hatte, anstelle langer Verhandlungen und Widerstände anbot, eine Entschädigung für die gesamten Frachtkosten zu zahlen, sich als Vasall des russischen Zaren zu bekennen, das Recht auf das Monopol im Handel mit Holz zu erteilen und dem Bau von Handelsposten sowie befestigten Stellungen auf allen Inseln zuzustimmen. Schäffer, ein offensichtlich abenteuer- und unternehmungslustiger Mann, sah darin eine großartige Gelegenheit, die Territorien des Unternehmens zu erweitern.

Nachdem er alle Götter und Priester befragt hatte, hisste Kaumualii, gekleidet in die Uniform eines Offiziers der russischen Marine, im Mai 1816 persönlich die Flagge der Russisch-Amerikanischen Kompanie, zusammen mit seinem Familienbanner über der Bucht von Waimea. Am selben Abend folgten religiöse Feiern zu Ehren der Vereinigung mit dem russischen Kaiser, bei denen nach Angaben der Matrosen der "Discovery" zwei Menschen geopfert wurden. Dies ist das letzte dokumentierte Menschenopfer in der Geschichte des Archipels.

Die Freundschaft entwickelte sich rasant. Schäffer erhielt Land am gegenüberliegenden Nordufer der Insel. Der Arzt nannte den Ort Schäffertal und errichtete dort den ersten Handelsposten, zum Meer hinaus geschützt durch zwei Schanzen mit Kanonen, benannt nach Zar Alexander und dem Feldherrn Barclay. Die Destillerie war eines der ersten Gebäude, das gebaut wurde – und später das erste, das von den Inselbewohnern zerstört wurde. Schäffer benannte den größten Fluss der Insel Hanapepe "Don" und taufte sogar zwei lokale Häuptlinge auf die Namen Michail Woronzow und Matwej Platow, zu Ehren zweier Helden des Vaterländischen Krieges von 1812.

Kaumualii unterstützte gekonnt den Enthusiasmus Schäffers. Schließlich verfolgte er praktische Eigeninteressen, die der Arzt offenbar bis zum letzten Moment nicht erkannte. Bald wurde ein zweites "geheimes" Abkommen geschlossen, in dem Kaumualii versprach, 500 Soldaten bereitzustellen, während die Russisch-Amerikanische Kompanie sie mit modernen Waffen bewaffnen und diese verdeckt auf Kriegsschiffen nach Oahu und Hawaii bringen würde, um gemeinsam den Archipel von König Kamehameha zurückzuerobern.

Kaumualii schlug auch vor, neben der bestehenden Siedlung ein weiteres Fort aus Stein zu bauen, nach allen Regeln der europäischen Ingenieurskunst, mit der sich Schäffer auskannte. Die Festung wurde schließlich nach Elisabeth benannt, der Frau des russischen Zaren. Fragmente von Vulkangestein, aus denen die Mauern bestanden, wurden nach lokaler Tradition von örtlichen Adligen und sogar von den Ehefrauen von Kaumualii herangetragen. Schäffer war sich sicher, dass er eine Festung für Russland baute, obwohl diese für das kommende halbe Jahrhundert nur für die lokalen Herrscher ein verlässliches Machtzentrum bildete.

Schäffer kaufte zudem zwei amerikanische Schiffe, im vollen Vertrauen darauf, dass deren Leistungen diese Kosten mehr als wettmachen würden und der Kauf dieser Schiffe von der Geschäftsführung der Kompanie unterstützt würde. Als die ehemaligen Eigner der Schiffe Nowo-Archangelsk erreichten und Baranow den Kaufvertrag zeigten, wurde dieser äußerst wütend. Anstatt 100.000 Rubel wiederzubeschaffen, hatte Schäffer für das Unternehmen weitere 200.000 Schulden gemacht.

Im Herbst begann sich die Situation rapide zu verschlechtern. Im September befahl Kamehameha – der natürlich von den Abmachungen seines Rivalen wusste – die Zerstörung des russischen Handelspostens auf Oahu. Die Sache nahm im Dezember eine sehr unangenehme Wendung, als der Zweimaster "Rurik" vor der Küste von Hawaii ankerte, der im Zuge einer Weltumsegelung von der Ostsee nach Alaska und weiter nach China unterwegs war. Der Kommandant des Schiffes, Otto von Kotzebue, war sehr überrascht, als er feststellte, dass 400 bewaffnete einheimische Soldaten seiner Mannschaft am Ufer begegneten. Kotzebue hatte Hawaii als Schiffsjunge während der ersten Expedition von Iwan Krusenstern rund um die Welt besucht und erinnerte sich an die Freundlichkeit der Einheimischen. Als er nun erfahren musste, dass die Inselbewohner die von Schäffer versprochenen russischen Kriegsschiffe erwartet hatten, war der Kapitän ratlos. Er bestand darauf, dass es unmöglich sei, sich mit den Einheimischen zu verbünden, und dass der Arzt offenbar in eigenem Namen gehandelt hatte. Schließlich segelte Kotzebue weiter, ohne herauszufinden, was wirklich mit Schäffer los war.

Als sie bemerkten, dass sich der Wind gedreht hatte, begannen amerikanische Kaufleute aus dem Gefolge von Kamehameha zu bluffen und drohten, fünf Kriegsschiffe herbeizurufen. Schäffer konnte weder aus Alaska noch aus Sankt Petersburg Hilfe erwarten, und die angeheuerten Amerikaner begannen allmählich, sich von ihm abzuwenden. Aber Schäffer schien nicht zu bemerken, was wirklich um ihn herum geschah. Was gab es zu befürchten? Immerhin hatte er ein unterschriebenes militärisches Abkommen und war der bevollmächtigte Vertreter des mächtigsten Landes der Erde. Alles endete im Juni 1817, als er und mehrere ihm verbliebene Matrosen gewaltsam aus ihrer Behausung in Waimea gezerrt und in ein kaum noch funktionierendes Boot gesetzt wurden, mit der Aufforderung, in Richtung der nicht weniger ramponierten "Kodiak" zu rudern, die vor der Küste vor Anker lag.

Die meisten Besatzungsmitglieder kehrten über vorbeifahrende Schiffe nach Alaska zurück. Schäffer, als Hauptverursacher der Unruhen, sollte zuerst nach Macau geschickt werden. Durch Zufallsbekanntschaften gelang es ihm, zunächst nach Brasilien und dann weiter nach Norddeutschland zu gelangen. Dort versuchte Schäffer erfolglos, eine Audienz bei Zar Alexander I. zu erhalten, der sich zu jener Zeit in Europa aufhielt, und ihm das wunderbare – vielleicht noch nicht ganz verlorene – Versprechen des Unternehmens auf Hawaii zu erklären. Später kehrte er nach Sankt Petersburg zurück, wo er versuchte, die Russisch-Amerikanische Kompanie davon zu überzeugen, das Unternehmen neu zu starten, wurde jedoch unter Schimpf und Schande entlassen. Sein Glück fand Schäffer schließlich in Brasilien, wo er erfolgreich die Umsiedlung von Deutschen organisierte.

Der Gründer des Königreichs von Hawaii, Kamehameha I., starb 1819 in einem ehrwürdigen Alter. Kaumualii wurde zu einem Treffen aller Häuptlinge auf Oahu eingeladen, wo sie ihn zwangen, eine der Witwen seines Rivalen zu heiraten, damit dessen Sohn das Land erben würde. Damit endete die politische Einigung auf dem Archipel.

Imperiale Trägheit

Die Russisch-Amerikanische Kompanie existierte noch mehrere Jahrzehnte, aber während dieser ganzen Zeit betrachtete der Hof des Zaren sie eher als Belastung, denn als mögliche Opportunität. Die Idee, Alaska an die Vereinigten Staaten zu verkaufen, entstand erstmals während des Krieges um die Krim. Britische und französische Truppen wurden damals nicht nur im Schwarzen Meer, sondern auch in der Ost- und Nordsee erwartet. Unter solchen Bedingungen galt es als unmöglich, mehrere tausend russische Untertanen auf der anderen Seite des Globus zu schützen. Der Verkauf von Alaska erfolgte 1867. Innerhalb von nur 30 Jahren wurden anschließend in Alaska Goldvorkommen und weitere 70 Jahre später Erdöl entdeckt.

Aus dem fernen zaristischen Sankt Petersburg schien die Idee überseeischer Kolonien nicht realistisch. Aber wie haben andererseits die Kolonien Spaniens und Portugals, der Niederlande und Frankreichs, Tausende von Seemeilen von ihrem Mutterland entfernt, über Jahrhunderte überlebt? Im Gegensatz zum russischen Alaska versuchten die meisten von ihnen, von Anfang an autark zu werden. Die Führung der Russisch-Amerikanischen Kompanie verließ sich jedoch auf jährliche Warenlieferungen vom anderen Ende des Globus. Eine so lange und teure Logistikkette war natürlich weder aus wirtschaftlicher noch aus militärischer Sicht zu rechtfertigen.

Folgt man dieser Logik, wird deutlich, warum Schäffer so eifrig darauf bedacht war, sich auf Hawaii niederzulassen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte im Ostpazifik ein geopolitisches Vakuum. Britische Unternehmen hatten British Columbia noch nicht erreicht, die Vereinigten Staaten würden auf Kalifornien erst mit dem Beginn des Goldrausches 1837 aufmerksam werden und Spanien hatte nicht mehr die Kraft, nördlich der Bucht von San Francisco vorzudringen. Zwei oder drei Jahrzehnte lang hatte Russland wirklich alle Karten in der Hand, aber man war sich dessen nicht bewusst – oder hatte nicht die Zeit, daraus Kapital zu schlagen.

Die Führung der Russisch-Amerikanischen Kompanie nahm die ersten Berichte von Schäffer mit Begeisterung auf. Aber die Übermittlung an die höchsten Würdenträger des Staates erwies sich als viel schwieriger. Kanzler Karl Robert von Nesselrode stand dem Erwerb der Inseln skeptisch gegenüber und legte ihn auf Eis. Als der Vorschlag den Zaren Alexander I. erreichte, hielt er es für unangemessen, irgendwo auf der anderen Seite der Welt einen potenziellen Konflikt mit England oder Amerika herbeizuführen. Dann kam das Jahr 1817: Napoleon wurde erst kürzlich bei Waterloo besiegt, eine Heilige Allianz wurde geschmiedet und die Unabhängigkeit Griechenlands und die Kontrolle über den Bosporus standen bevor. Darüber hinaus begann der Zar 1816, wie wir heute sagen würden, "in Depressionen zu verfallen". Es war jedenfalls nicht die beste Zeit für Abenteuer im Pazifischen Ozean.

Zufälligerweise hörte damit die "russische Spur" in der Geschichte Hawaiis nicht auf. Der russische sozialrevolutionäre Narodnik Nikolai Sudsilowski sollte später Gründer der Partei der Unabhängigen Heimat von Hawaii und 1901 erster Präsident des Senats von Hawaii werden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Aus dem Englischen

Anatolij Brusnikin ist ein russischer Historiker und Journalist.

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