Meinung

Nachrichtenagentur AP löscht den Jugoslawien-Krieg aus der Geschichte – Das Narrativ nicht gefährden

Das Narrativ, dass der Krieg in der Ukraine "der schlimmste Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg" sei, lässt den Westen den schrecklichen Krieg vergessen, der Europa vor nicht allzu langer Zeit erschütterte, um Russland für die Störung des angeblichen Friedens in Europa verantwortlich zu machen.
Nachrichtenagentur AP löscht den Jugoslawien-Krieg aus der Geschichte – Das Narrativ nicht gefährdenQuelle: Gettyimages.ru © Hulton Archive

von Nebojša Malić

Europa hatte "77 Jahre fast ununterbrochenen Frieden", bis Russland beschloss, diesen durch einen "Einmarsch in die Ukraine" zu beenden, so die eigenartige "Analyse", die am vergangenen Wochenende von Associated Press (AP) veröffentlicht wurde. Nachdem damit die blutige Zerstörung Jugoslawiens in den 1990er Jahren aus der Geschichte gelöscht wurde, widerspricht sich der Autor nur zwei Absätze später selbst.

In einer surreal anmutenden Eröffnung zu seiner Analyse argumentiert John Leicester von AP, dass der Konflikt in der Ukraine ein weltveränderndes Ereignis sei, das sich auf derselben Ebene befindet wie der erste Atombombentest 1945 oder die Mondlandung 1969. Abgesehen davon, dass die Mondlandung die Welt nicht wirklich verändert hat – das Apollo-Programm war wohl die Bestmarke der NASA –, ist es rätselhaft, warum sie überhaupt erwähnt wird. Vielleicht, um den Leser emotional auf den folgenden Hammer vorzubereiten, nämlich dass der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar dieses Jahres "durch den Einmarsch in die Ukraine die bestehende Weltordnung und 77 Jahre fast ununterbrochenen Friedens in Europa zertrümmert hat". Wie bitte?

Leicester, der aus Paris schreibt und seit 2002 für AP über Europa berichtet, hat die Balkankriege der 1990er Jahre offensichtlich verpasst. Menschen, die diese nicht verpasst haben und bis heute mit den Folgen davon leben, waren erwartungsgemäß verärgert.

Der Krieg in Bosnien von 1992 bis 1995 galt sicherlich nicht als "ununterbrochener Frieden" – es sei denn, Bosnien gilt nur auf den Landkarten als Europa. Ebenso wenig die "humanitäre Intervention" von 1999 im Kosovo, deren Folgen sich am vergangenen Wochenende erneut gezeigt haben. Der gesamte Artikel dreht sich im Wesentlichen um dieses eine Wort: "fast".

"Fast ununterbrochener Frieden in Europa" sah so aus: Bürgerkriege, militärische Aggression gegen Bosnien-Herzegowina, Belagerung von Städten, Massengräber, zerstörte Häuser, auseinandergerissene Familien, Hunger und Armut, entvölkerte Städte und Dörfer.

Es könnte möglich sein, dass Leicester – und seine Redakteure – diese Episoden völlig vergessen hatten. Schließlich herrscht im Westen eine merkwürdige Zurückhaltung beim Interesse daran, die offiziellen Narrative der Jugoslawienkriege infrage zu stellen. Nur zwei Absätze später nennt Leicester ein emotional aufgeladenes Thema aus der Zeit des Bosnienkrieges – Srebrenica – und vergleicht die Russen mit den Nazis.

"Russlands Invasion, das Töten und Verstümmeln haben Mariupol, Butscha und andere ukrainische Namen zu Europas langer Liste von Städten und Gemeinden hinzugefügt, die mit den Missbräuchen des Krieges in Verbindung gebracht werden: Dresden, Srebrenica, das Massaker der Nazis im französischen Oradour-sur-Glane, um nur einige zu nennen."

Wenn man bedenkt, dass seine "Analyse" nur so von emotional aufgeladener Sprache trieft, deutet dies darauf hin, dass entweder Leicester und AP den Balkan nicht wirklich als Europa betrachten oder sich dafür entschieden haben, die Konflikte dort zu beschönigen, um die Realität passend an ihr Wunschnarrativ hinzubiegen – an jenes von Russland, das Europas friedlichen Schlaf gestört hat.

Man schaue sich nur dieses Geschwätz an: "Generationen von Europäern, die in einer Zeit aufgewachsen sind, in der sie nur Frieden kannten, wurden brutal daran erinnert, wie wertvoll und zerbrechlich dieser Frieden ist." Oder dies: "... die Notwendigkeit, Partei zu ergreifen – zur Selbsterhaltung und für das Richtige und gegen das Falsche einzustehen."

Oder zu beklagen, dass die Welt "mit rasch entwickelten Impfstoffen gegen die globale COVID-19-Pandemie und Vereinbarungen über den Klimawandel solche Fortschritte gemacht habe, bevor Russlands allmächtiger Putin es sich zu seiner historischen Mission machte, die unabhängige, westlich ausgerichtete Ukraine mit vorgehaltener Waffe zurück in den Orbit des Kremls zu drängen, wie es schon zu Sowjetzeiten gemacht wurde, wo er als Offizier beim gefürchteten KGB diente". Ein Sprachbild nach dem anderen, aneinandergereiht für maximale emotionale Wirkung.

An diesem Punkt ist es verlockend, sich zu fragen – so wie es ein Online-Experte tat –, wie sich die einst ehrwürdige AP so schnell in einen brennenden Müllhaufen verwandeln konnte. Nicht nur, wenn es um den Konflikt in der Ukraine geht – die fast komische "Schreiben Sie nicht Rezession"-Berichterstattung der Nachrichtenagentur über die US-Wirtschaft unter Präsident Joe Biden hat einen Meinungsforscher dazu veranlasst, sie als "ekelhaft unehrliche" Menschen zu bezeichnen, die seit Jahren die Demokraten beweihräuchern.

Ein weiteres Beispiel dafür ist in der Berichterstattung von AP über den Ausschuss des Repräsentantenhauses zu sehen, der sich mit den Unruhen im Kapitol vom 6. Januar 2021 befasst. Eine ungewöhnliche Ansammlung von Demokraten, die zusätzlich noch mit zwei fanatischen republikanischen Anti-Trump-Vertretern "angereichert" wurde. Zusätzlich zu den emotionalen Untertönen besteht AP darauf, die Unruhen im Kapitol als "Aufstand" zu bezeichnen, ein emotional aufgeladener Begriff, der von den Demokraten bevorzugt wird, um sich auf den 14. Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung berufen zu können, um damit die Opposition zu entrechten.

Man vergleiche das damit, dass AP praktisch einen Salto rückwärts hingelegt hat, um die landesweiten Unruhen von 2020 nicht als "Unruhen" zu bezeichnen, sondern buchstäblich alles andere. Die Erklärung dafür? Das Wort "Unruhen" würde "breite Massen von Menschen stigmatisieren, die gegen Lynchjustiz, Polizeibrutalität oder für Rassengerechtigkeit protestieren, was auf die urbanen Aufstände der 1960er Jahre zurückgeht".

Stattdessen rät das Stilbuch von AP – das von den meisten englischsprachigen Journalisten auf der ganzen Welt angewendet wird – zur Verwendung verschiedener Euphemismen, je nachdem, gegen wen sich die Gewalt richtet. Mit anderen Worten, das Was zählt weniger als wer wem etwas antut.

Wenn es beim ersten Mal ein Zufall ist, beim zweiten Mal ein unglücklicher Zufall ist und beim dritten Mal eine feindliche Aktion ist, dann ist dies ein wahrer Angriff auf die Bedeutung von Wörtern, der von einer der größten Nachrichtenagenturen der Welt verübt wird. Hier geht es um mehr als die Ukraine oder die Kriege auf dem Balkan, die Rezession von Joe Biden oder die "hitzigen, aber meist friedlichen" Unruhen – es geht um die Realität selbst und um die Menschen, die versuchen, dies zu verdrehen, aus welchen Gründen auch immer.

Übersetzt aus dem Englischen.

Nebojša Malić ist ein serbisch-amerikanischer Journalist, Blogger und Übersetzer, der von 2000 bis 2015 eine regelmäßige Kolumne für Antiwar.com schrieb und heute Senior Autor bei RT ist. Man kann ihm auf Telegram @TheNebulator und auf Twitter @NebojsaMalic folgen.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.