Europa

Wo ist sie, die "polnisch-ukrainische Freundschaft"? Angst und Schrecken an der Grenze

Die Spirale des Hasses auf beiden Seiten der polnisch-ukrainischen Grenze eskaliert derzeit rasch. Die Protestaktion der polnischen Lastwagenfahrer wurde lediglich zu einem Auslöser.
Wo ist sie, die "polnisch-ukrainische Freundschaft"? Angst und Schrecken an der GrenzeQuelle: AFP © Wojtek Radwanski

Von Oleg Chawitsch

Der Botschafter der Ukraine in Warschau hat polnischen Lastwagenfahrern vorgeworfen, seinem Land einen "schmerzhaften Stoß in den Rücken" versetzt zu haben. Indessen beschimpfen ukrainische Spediteure ihre polnischen Kollegen als "katholischen Abschaum" und versprechen, ihnen die Kehlen durchzuschneiden. Dies ruft bei den Polen direkte Assoziationen mit dem Wolhynien-Massaker im Zweiten Weltkrieg hervor, als ukrainische Nationalisten etwa 100.000 polnische Zivilisten ermordeten. Nur wenige Tage der Proteste von polnischen Lastwagenfahrern, die seit dem 6. November den Verkehr an drei Grenzübergängen zwischen Polen und der Ukraine vollständig blockieren, reichten damit aus, dass das Kartenhaus angeblicher "polnisch-ukrainischer Freundschaft", das jahrelang, besonders eifrig aber nach dem Beginn der russischen Militäroperation aufgebaut wurde, vollständig in sich zusammenbrach.

Dabei fordern die polnischen Lastfahrer doch lediglich eine Rückkehr zum bisherigen System der Erteilung von Arbeitsgenehmigungen in der EU an ihre ukrainischen Kollegen. Seit dem Beginn der russischen Militäroperation hatte die EU-Kommission in Brüssel nämlich bislang beispiellose Maßnahmen zur Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft ergriffen und für zunächst ein Jahr die ukrainischen Spediteure von der Notwendigkeit befreit, die besagte Genehmigung zu erlangen. Im Sommer des laufenden Jahres verlängerte die EU die Gültigkeit dieser Regelung bis zum Juni 2024. Nun fordern polnische Spediteure, diese einseitige Vergünstigung gänzlich abzuschaffen und das alte Genehmigungssystem wiederherzustellen. Eine weitere Forderung besteht in der Verschärfung von Transportregeln gemäß der CEMT-Genehmigung auch für ihre ukrainischen Kollegen.

Es ist anzumerken, dass die Blockade der drei Grenzübergänge Dorohusk/Jagodin, Korczowa/Krakowez und Hrebenne/Rawa-Russkaja keine totale Sperrung ist: die Protestierenden lassen einen bis zwei Lastwagen mit kommerziellen Gütern pro Stunde durch und schränken dabei den Verkehr von humanitären Gütern und Personenfahrzeugen gar nicht ein. Dennoch ist es zweifellos eine viel ernstere Protestaktion als jene Straßenblockade für Lastwagen mit billigem ukrainischem Getreide, die im Frühling dieses Jahres von polnischen Bauern organisiert wurde. Jene Blockade dauerte nur wenige Tage, während die Lastfahrer jetzt ankündigen, mindestens bis zum 3. Januar 2024 protestieren zu wollen.

Infolge der Blockade sind die Preise für den Gütertransport aus Polen in die Ukraine um ein Vielfaches gestiegen. Betrug der Preis für die Lieferung einer Last von 22 Tonnen aus dem polnischen Hafen Gdansk nach Kiew etwa 1.000 Euro, so erreichen die Preise inzwischen bis zu 4.000 Euro. In der Perspektive kann diese Lage zu Unterbrechungen bei Güterlieferungen, Preissteigerungen und Verlusten sowohl bei Spediteuren als auch bei deren Auftraggebern führen und somit die gesamte ukrainische Wirtschaft beeinträchtigen.

Das Ministerium für Entwicklung von Gemeinden, Territorien und Infrastruktur der Ukraine führte am 13. November ein Treffen mit Vertretern der polnischen Behörden und der Spediteure durch, das freilich zu keinem Ergebnis führte. Denn Kiew ist lediglich bereit, technische Fragen zu besprechen: etwa die Einrichtung von separaten Fahrstreifen für die Ausfahrt von leeren Wagen aus der Ukraine nach Polen, die Möglichkeit, Fahrer im System der elektronischen Grenzübergangs-Warteschlange e-Tscherga (ukrainisch: єЧерга – Електронна черга перетину кордону) zu ersetzen und so weiter. Was eine Rückkehr zum System der Genehmigungen für Transporte zwischen der Ukraine und der EU angeht, so haben die Kiewer Behörden nicht vor, dies überhaupt zu diskutieren. Darüber hinaus beschuldigt Kiews Propaganda nur polnische Spediteure für die Entstehung dieser Lage. Dies rief eine erwartungsgemäße Reaktion der ukrainischen Lastfahrer hervor – sie begannen, ihren polnischen Kollegen zu drohen. Darüber berichtete das polnische Nachrichtenportal Wirtualna Polska (WP).

"Selbst, wenn die Blockade mit einem Einvernehmen endet, weiß ich nicht, ob ich unsere Nachbarn mit den gleichen Augen betrachten kann. Ich habe schon Dutzende Drohungen über soziale Netzwerke und Telefonnachrichten erhalten", erklärte gegenüber WP Rafał Mekler, der Inhaber einer Speditionsfirma aus der Woiwodschaft Lublin und einer der Organisatoren des Lkw-Fahrer-Protests.

Mekler zeigte den Journalisten Screenshots von Meldungen, die er von Ukrainern erhalten hatte. Sie beschimpfen die protestierenden Fahrer als "katholischen Abschaum". In einer der Meldungen schrieb ein gewisser Alexander Dunaitschuk auf Ukrainisch: "Ich habe Russen die Kehlen durchgeschnitten und denke, dass ich dasselbe mit dir tun werde." Ein Nutzer unter dem Namen Vozia schrieb: "Unsere glorreichen Kosaken haben noch zu wenige von euch verbrannt." Auf solche Versprechen von Ukrainern, Polen "abzuschlachten", reagiert man in Polen sehr gereizt, denn dabei werden sofort Erinnerungen an das Massaker von Wolhynien wach. Während dieser Aktion ermordeten ukrainische Nationalisten und einheimische Ukrainer – oft mit einfachen Geräten für die Feldarbeit – über 100.000 polnische Zivilisten, überwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen.

Die Erinnerung an das Wolhynien-Massaker ist in Polen wach: während des "Marsches der Unabhängigkeit" von Hunderttausenden in Warschau am 11. November 2023 trugen die Teilnehmer ein großes Spruchband mit der Aufschrift "Wir erinnern uns an Wolhynien! Das Wolhynien-Massaker ist ein ukrainisches Genozid an Polen" und riefen die Losung "Wir erinnern uns an Wolhynien" auch vielfach. Daher ist es kein Wunder, dass ihrerseits auch Polen, die Meklers Seiten in sozialen Netzwerken besuchen, nicht an Beschimpfungen für die Ukrainer sparen. Die Hassspirale auf beiden Seiten der polnisch-ukrainischen Grenze eskaliert sehr schnell.

"Ich und meine Kollegen haben unsere Kennzeichen zugeklebt. Man hat uns fotografiert und dennoch unsere Firmendaten herausgefunden. Danach erhielten wir Drohungen, dass jenen, die in die Ukraine fahren werden, die Zähne ausgeschlagen werden und der Wagen verbrannt wird", berichtete einer der protestierenden Fahrer den Journalisten von WP. Seiner Meinung nach sei dies der endgültige Schlusspunkt der polnisch-ukrainischen Freundschaft.

"Man bedenke nur, sie kämpfen gegen Menschen wie mich, der Waffen, Schutzwesten, Konserven und sonstige Lebensmittel transportierte, die vor dem Beginn der ukrainischen Offensive bei Charkow notwendig waren. Nun schreibt man mir, dass ich Blut an den Händen habe, und dass ich genau wie die russischen Soldaten ein Kriegsverbrecher sei. Es ist schlimm mit diesen Leuten", klagt der polnische Lastfahrer. Seinen Angaben zufolge droht man ihm, dass der ukrainische Geheimdienst ihn beseitigen wird, weil er mit seinen Protesten an der Grenze angeblich Russland helfe.

Polnische Unternehmer behaupten außerdem, dass ukrainische Beamte den Grenzverkehr kontrollieren und ausgewählten ukrainischen Spediteuren erlauben, die Grenze schneller zu überqueren. Die Rede ist von einigen Kiewer Unternehmen, deren Fahrzeuge nicht in der elektronischen Warteliste erscheinen und dennoch die Grenze überqueren. Auch einige Güter, die in die Ukraine transportiert werden, rufen den Unmut der Polen hervor. Am vergangenen Montag veröffentlichten die Protestierenden ein Video, auf dem sie einen ukrainischen Lkw-Anhänger blockieren, der mit Porsches und sonstigen Luxusfahrzeugen beladen ist, die von ukrainischen Firmen aus dem Westen importiert wurden.

"Ich werde noch einige von diesen Materialien sammeln und mich wegen dieser Drohungen an die Polizei wenden. Diese Emotionen können soweit eskalieren, dass jemand wirklich verletzt wird", versprach Mekler.

Doch bisher leiden in Polen unter der örtlichen Justiz vor allem Einheimische, die trotz ihres kritischen Verhältnisses zu ukrainischen Nationalisten den Flüchtlingen aus der Ukraine halfen. Der Unternehmer Jerzy Andrzejewski aus Lublin, der 40 ukrainische Flüchtlinge im Jahr 2022 aufgenommen hatte, wurde am 9. November dennoch zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe wegen "Beleidigung der Ukrainer" in sozialen Netzwerken verurteilt. Das Urteil war noch im April gefällt worden. Seitdem versuchte Andrzejewski, dagegen Berufung einzulegen, bisher aber ohne Erfolg. Dabei wurde weder im Gerichtsurteil noch im Beschluss der Staatsanwaltschaft angegeben, von welchen Beiträgen und sozialen Netzwerken überhaupt konkret die Rede sei. Als Anlass für juristische Verfolgung diente eine Denunzierung durch das "Zentrum für Beobachtung des rassistischen und fremdenfeindlichen Verhaltens", das mit westlichen Geldern finanziert wird. Freilich fanden die Journalisten einige Kommentare von Andrzejewski, zu denen Worte gehören, dass sich die Ukrainer "gegenseitig aufhetzen" und "keine willkommenen Gäste in Polen sein sollten". Andrzejewskis Kommentare über das Wolhynien-Massaker, das der Angeklagte den Ukrainern anlastet, bezeichnete der Richter während der Sitzung als "böswillig", ohne sie aber konkret anzuführen. Der Angeklagte betonte, dass er Banderas Ideologie verurteilt, aber nicht die Ukrainer wegen ihrer Abstammung. Das Gericht beachtete dies indessen nicht und gab an, dass die verhängte Strafe "mögliche Nachahmer" abschrecken solle.

Ereignisse, die bereits in Details beschrieben wurden, sind in Polen keine Einzelfälle und führen zu einer rapiden Abnahme des Wunsches vieler Polen, ukrainische Flüchtlinge in ihrem Land zu unterstützen. Dieser Trend wurde noch im Herbst des vergangenen Jahres festgestellt. Im Vorfeld der Parlamentswahlen am 15. Oktober erklärten 60 Prozent der befragten Polen, dass sie gegen weitere finanzielle Hilfen an Flüchtlinge aus der Ukraine eintreten. Auf die Frage "Sollen wir weiterhin ukrainische Bürger, die in Polen wohnen, unterstützen, indem wir ihnen beispielsweise Sozialleistungen für Kinder und sonstige Vergünstigungen gewähren?" antworteten 36 Prozent der Polen mit "definitiv nein" und 24 Prozent mit "eher nein". Eine entgegengesetzte Meinung vertreten nur 26 Prozent der Befragten, von denen acht Prozent mit "definitiv ja" und 18 Prozent mit "eher ja" antworteten.

Kazimierz Kik, Professor für Politologie an der Jan-Kochanowski-Universität in Kielce erklärte in seinem Kommentar zu den Umfrageergebnissen, dass Polen den Ukrainern zwar helfen, aber immer mehr dazu neigen, bei dieser Hilfe Schaden für sich selbst zu vermeiden. "Wir haben sehr viel Sympathie für die Flüchtlinge, doch es stellt sich heraus, dass wir nicht unsere eigenen Interessen ignorieren können", sagte er. Nach seiner Meinung hatte auch die Auseinandersetzung um den Import des ukrainischen Getreides das Verhältnis der Polen gegenüber den Ukrainern beeinträchtigt.

Im Übrigen antwortete Jacek Piechota, der polnische Präsident der Polnisch-Ukrainischen Handelskammer und ehemalige Wirtschaftsminister Polens, auf die Frage, welche weitere Branche nach den Bauern und den Lastfahrern womöglich weitere antiukrainische Proteste organisieren könnte: "Eine beliebige." Eine ernstere Bestätigung für die Worte eines einfachen Lastwagenfahrers über den "endgültigen Schluss der polnisch-ukrainischen Freundschaft" lässt sich kaum finden.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.

Oleg Chawitsch ist gebürtiger Westukrainer und Experte für die ukrainische Politik. Seit 2014 publiziert er hauptsächlich auf der Plattform ukraina.ru und in russischen Medien.

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