Europa

Brutale Behandlung von "Kollaborateuren" durch Kiews "Befreier" könnte Millionen Menschen betreffen

Was würde mit den ethnischen Russen im Donbass und auf der Krim geschehen, falls die Ukraine und die NATO aus dem aktuellen Konflikt als Sieger hervorgehen? Der Autor John Varoli gibt einen düsteren Ausblick.
Brutale Behandlung von "Kollaborateuren" durch Kiews "Befreier" könnte Millionen Menschen betreffen

Von John Varoli

Vor neun Jahren lebten laut Statistiken ukrainischer Behörden etwa achteinhalb Millionen Menschen im Donbass und auf der Krim. Die meisten von ihnen gaben als Muttersprache Russisch an und viele von ihnen identifizierten sich als ethnische Russen. Sie alle werden von Moskau nun als russische Staatsbürger angesehen. Sollte also das von der NATO unterstützte Regime in Kiew diese Gebiete zurückerobern, so gibt es Befürchtungen, dass die Vergeltung gegen die Einheimischen rücksichtslos und blutig ausfallen wird.

Auf den ersten Blick erscheint der Konflikt, wie er sich ab 2014 im Donbass und auf der Krim entfaltete, als klassischer Separatismus wie aus dem Lehrbuch. Eine ethnische Minderheit – in diesem Fall Russen – wollte unabhängig sein und sich wieder mit dem Mutterland vereinen, von dem sie vor Jahrzehnten abgetrennt wurde, als die damaligen sowjetischen Führer willkürlich Grenzen zogen. Kiew hingegen will die kulturelle Identität und politische Autonomie dieser ethnischen Minderheit ausmerzen. Deshalb erhoben sich Angehörige dieser Minderheit zu einer Rebellion. Klingt alles recht einfach, nicht war?

Die Sachlage ist jedoch aufgrund der geopolitischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland viel komplizierter. Seit acht Jahren sind der Donbass und die Halbinsel Krim Figuren auf dem Schachbrett des Westens in einer Russland aufgezwungenen Rivalität zwischen den Supermächten. Und jetzt stehen sie, seit den Balkankriegen der 1990er-Jahre, im Kreuzfeuer des verheerendsten Konflikts in Europa.

Wenn die NATO und das Kiewer Regime von einer "Befreiung" der Krim und des Donbass sprechen, meinen sie in Wirklichkeit, dass sie entschlossen sind, die ethnische Identität der lokalen russischen Bevölkerung auszurotten und die Russische Föderation dadurch zu schwächen, wenn nicht gar zu zerstören.

Den Rubikon überschritten

Vertreter Kiews und der NATO sind besessen davon, die volle Kontrolle über diese umstrittenen Regionen zu erlangen. Es scheint keine Grenzen zu geben, wie viel Blut und Tränen man bereit ist, diesem Ziel zu opfern. In deren Plänen fehlen jedoch Details darüber, was mit der lokalen russischen Bevölkerung im Falle eines Sieges geschehen soll.

Mehr als eine Million Menschen im Donbass beantragten und erhielten zwischen 2019 und dem Moment, als die Gebiete 2022 Teil Russlands wurden, die russische Staatsbürgerschaft. Man betrachtet sich als ein Volk, das durch Blut, Sprache und Kultur mit Russland verbunden ist. Nachdem die Regionen, zusammenfassend als "neue russische Gebiete" bezeichnet, Russland beigetreten waren, wurden aus Moskaus Sicht alle Einwohner zu russischen Staatsbürgern, wobei jeder die Freiheit hatte, sich dagegen zu entscheiden und niemand die ukrainische Staatsbürgerschaft aufgeben musste.

Laut internationalen Normen hat Moskau das Recht, seine Bürger zu schützen, egal wo sie sich befinden. Dem Narrativ der westlichen Medien zufolge begann der Konflikt in der Ukraine jedoch am 24. Februar 2022, als Russland in die Ukraine "einmarschierte, um das Land zu zerstören" und "das Sowjetimperium wieder aufzubauen". Die Realität sieht natürlich ganz anders aus. Hier ist ein kurzer Überblick darüber, wie der Konflikt vor fast neun Jahren tatsächlich begann.

Am 21. Februar 2014 stürzte ein gewaltsamer Aufstand in Kiew mit Unterstützung der USA den demokratisch gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch, der aus dem Donbass stammt. Es überrascht nicht, dass Janukowitschs Unterstützer in der gesamten Ost- und Südukraine damit begangen, gegen das neue Regime in Kiew Widerstand zu leisten.

Als die Ukraine im Frühjahr 2014 in Chaos versank, wurde auf der Krim ein Referendum abgehalten und die Halbinsel anschließend umgehend in die Russische Föderation wiederaufgenommen. Die beiden Donbass-Regionen Donezk und Lugansk erklärten daraufhin ihre Unabhängigkeit von Kiew. Die Volksrepublik Donezk und die Volksrepublik Lugansk waren geschaffen, traten damals aber nicht der Russischen Föderation bei.

Kiew reagierte darauf mit der Bombardierung des Donbass, der Verhaftung vermeintlicher Separatisten und mit dem Lostreten einer sogenannten Anti-Terror-Operation. Am 2. Mai 2014 wurden fast 50 pro-russische Demonstranten im Haus der Gewerkschaften in Odessa bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Rubikon war nun überschritten und in den Jahren 2014 und 2015 flohen mehr als eine Million Ukrainer nach Russland.

Die Abschaffung der ethnischen Russen

Während die NATO und Kiew stets von "Demokratie" und "Freiheit" sprechen, wenden sie diese Konzepte nicht auf die russischen Bürger auf der Krim und in den neuen Gebieten an, die nach Abhaltung von Referenden Teil Russlands wurden. Heute bestehen Kiew und die NATO darauf, dass sie gegen ein "totalitäres Russland" kämpfen, um die "regelbasierte Ordnung" zu schützen. Doch die NATO weigert sich, die Ergebnisse der Referenden anzuerkennen. Und westliche Journalisten, die oft aus Washington, London oder Kiew berichten, haben ein bizarres und komplett falsches Narrativ entwickelt, dem zufolge die Menschen in diesen Regionen gefangen gehalten werden und unter einer "brutalen russischen Besatzung" leben.

Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein Grundprinzip des Völkerrechts, das in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist. US-Präsident Woodrow Wilson hatte das Prinzip angenommen, um den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg zu rechtfertigen. Die USA kämpften dafür, "die Welt sicherer für die Demokratie zu machen" und die europäischen Nationen Polen, Tschechen und Serben von der deutschen Herrschaft zu befreien. Warum können nicht auch die Menschen auf der Krim und in den neuen russischen Gebieten in den Genuss solcher Rechte kommen? Trotz der von den westlichen Medien verbreiteten Desinformation sind sich die NATO-Granden ihrer eigenen Heuchelei bewusst.

Was also tun, wenn erhabene US-amerikanische Prinzipien mit Washingtons geopolitischen Ambitionen kollidieren? Man ändert die Fakten, damit sie in das Narrativ passen.

Der Westen hat die Russen auf der Krim und im Donbass effektiv abgeschafft. Voilà! Jeder, der in diesen Regionen lebt, ist automatisch "Ukrainer". Man muss ihn nicht fragen, was er davon hält, welche Sprache er spricht oder wie er sich ethnisch identifiziert. In der westlichen Berichterstattung wird dieser Umstand beschönigt. Und das nicht, weil die moderne Ukraine Menschen jeglicher ethnischen oder sprachlichen Herkunft willkommen heißt. Ganz im Gegenteil: Das Ziel des Kiewer Regimes ist eine gesäuberte Ukraine, in der alle Ukrainisch sprechen und die nationale Identität der Ukraine annehmen. In der Vision des Westens für die Ukraine ist kein Platz für andere Ethnien – oder zumindest kein Platz für eine bestimmte Ethnie.

Ethnische Säuberung am Horizont?

Dies bringt uns zum Hauptdilemma. Falls Kiew und die NATO diesen Konflikt gewinnen und die Regionen "befreien", stellt sich die Frage, was mit den ethnischen Russen, die dort leben, geschehen wird. Diese Frage habe ich Experten und sowohl ehemaligen als auch amtierenden Vertretern der US-Regierung gestellt. Aber niemand wollte darauf antworten. Also habe ich im Internet gesucht. Auch dort nichts. Keine detaillierten Informationen zu Kiews Nachkriegsplänen. Das Schweigen ist unheimlich.

Schauen wir uns daher an, was in den vergangenen neun Monaten in den von den ukrainischen Streitkräften "befreiten" Regionen bereits geschehen ist. Die Vergeltung gegen pro-russische Einheimische in den Gebieten Charkow und Cherson geschah umgehend und war brutal. Filtrationsmaßnahmen wurden eingesetzt, um vermeintliche Kollaborateure zusammenzutreiben und zu bestrafen. Es soll sogar zu außergerichtlichen Exekutionen gekommen sein. Außerdem können wir sehen, wie die ukrainischen Streitkräfte täglich wahllos zivile Zentren im Donbass beschießen und terrorisieren, was entsetzlich viele zivile Opfer fordert.

Man muss diesen Gedanken auf sich wirken lassen: Kiew betrachtet diese Menschen als seine eigenen, da es die Donbass-Gebiete nicht als Teil Russlands anerkennt. Dennoch lässt es eben diese Menschen jeden Tag rücksichtslos bombardieren. Wie viel größer wird das Gemetzel sein, wenn die Kiewer Junta den Donbass und die Krim von der "russischen Besatzung befreien" wird?

Das Ende der Redefreiheit

In den vergangenen 25 Jahren hat die Welt viele Fälle von Separatismus erlebt. Die bekanntesten unter ihnen sind der Kosovo und der Südsudan. Beide haben Unterstützung aus dem Westen genossen und ihre Ambitionen waren daher recht erfolgreich.

Doch viele andere Gruppen, die sich nach Unabhängigkeit sehnen, werden von den westlichen Mächten ignoriert. Klare und unbestreitbare Tatsachen über die pro-russische Stimmung unter den Menschen im Donbass und auf der Krim werden vom Westen als "russische Propaganda" abgetan. Jeder, der es wagt, das Narrativ der NATO infrage zu stellen oder anzuzweifeln, wird als eine "Marionette Putins" beschimpft.

Das Ziel solcher böswilligen Beschimpfungen ist es, das freie Denken und eine Debatte über die Zustände abzuwürgen. Verbrechen werden am besten im Stillen begangen, weit entfernt vom Licht der Wahrheit und der Transparenz. Zensur ist das Refugium von Schurken und Schuften, deren Ansichten und Ideen einer intellektuellen Prüfung nie standhalten würden. Deshalb will niemand in der NATO und in Kiew eine ehrliche Diskussion über die Zukunft der Krim, der neuen russischen Gebiete und der dort lebenden Menschen.

Eines können wir jedoch mit Sicherheit sagen: Ein Sieg Kiews würde bedeuten, dass unzählige Einheimische aus ihren Häusern fliehen müssten. Tausende Menschen würden zu "Kollaborateuren" erklärt und allen Arten von Bestrafungen ausgesetzt. Hinrichtungen sind wahrscheinlich. Russen und andere ethnische Minderheiten sind in einer radikal nationalistischen Ukraine, die vom Einfluss Russlands gesäubert werden will, nicht erwünscht.

Willkommen in der "regelbasierten Ordnung" der NATO.

Aus dem Englischen.

John Varoli ist Journalist. Er hat Studiengänge in Russistik und Geschichte an der Cornell University mit Erfolg abgeschlossen. Seit dem Jahr 1992 arbeitet Varoli sowohl in Russland als auch in der Ukraine und war 15 Jahre als Auslandskorrespondent für große Medien wie die New York Times, Bloomberg News und Reuters TV tätig. Sein persönlicher Blog ist auf Substack zu finden.

Mehr zum Thema – Nicht "mit vorgehaltener Waffe": Warum die Ukrainer für den Beitritt zu Russland stimmten

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